Novembersonne
In den ächzenden Gewinden
Hat die elter sich gedreht,
Unter meinen alten Linden
Liegt das Laub hoch aufgeweht.
Dieser Erde Werke rasten,
Schon begint die Wintrruh —
Sonne, noch mit unverblaßten
Goldnen Stralen wanderst du!
Ehe sich das Jahr entlaubte,
Gingen, traun sie mußig nie,
Nun, an deinem lichten Haupte
Flammen inbescháftigt sie.
Erst ein Ackerknecht, ein Schnitter,
und ein Traubenkoch zuletzt,
Bist du nun der freie Ritter,
Der sich auf der Fahrt ergetzt.
Und die Schüler, zu den Bänken
Kehrend, grüßen jubelvoll,
Hingelagert vor den Schenken,
Dich als Musengott Apoll.
De Zwitserse, Duitstalige dichter Conrad Ferdinand Meyer (1825-1898). |
In einer Sturmnacht
Es fährt der Wind gewaltig durch die Nacht,
In seine ellen Pfeifen blast der Föhn,
Prophetisch kämpft am Himmel eine Schlacht
Und überschreit ein wimmernd Sterbgestöhn.
Was jetzt dämonenhaft in Lüften zieht,
Eh das jahrhundert schließt, erfüllt's die Zeit —
Im Sturmespausen klingt das Friedelied
Aus einer fernen, fernen Seligkeit.
Die Ampel, die in leichten Ketten hangt,
Hellt meiner Kammer Dämmerung,
Und wann die Decke bebt, die Diele bangt,
Bewegt sie sich gemach im sachten Schwung.
Mir redet diese Flamme wunderbar
Von einer windbewegten Ampeel Licht,
Die einst geglommen für ein nächtlich Paar,
Ein greises und göttlich Angesicht.
Es sprach der Friedestifter, den du weißt,
In einer solchen wilden Nacht wie heut:
»Hörst, Nikodeme, du den Schöpfer Geist,
Der mächtig weht und seine Welt erneut?«
Conrad Ferdinand Mayer (1825-1898)
Uit: Sämtliche Gedichte
Reclam-editie RUB 9885.